EXPERIMENTALPSYCHOLOGE KLäRT AUF - STRENGE IN DER ERZIEHUNG: WIE VIEL AUTORITäT BRAUCHEN KINDER EIGENTLICH?

Wie viel Strenge braucht ein Kind? Psychologe und Pädagoge Siegbert Warwitz erklärt, warum für Kinder Loslassen, aber auch konsequentes erzieherisches Handeln notwendig ist - und was No-Gos in der Erziehung sind.

Vorstellungen von strenger Erziehung

„Der nicht geschundene Mensch wird nicht erzogen!“ behauptete ein berühmt gewordener Satz des griechischen Dichters Ménandros zur Zeit Alexanders des Großen. Goethe stellte ihn als Leitwort seiner Autobiografie und Goebbels seinen Tagebüchern voran. Und nach Luthers Übersetzung heißt es in der Bibel in den Sprüchen des weisen Salomo (13.24): „Wer seine Rute schont, der haßt seinen Sohn, wer ihn aber liebhat, der züchtigt ihn beizeiten.“ Auch heutige Alltagsweisheiten finden sich nicht weit davon entfernt: „Was uns nicht umbringt, macht uns stärker.“ „Eine kleine Abreibung hat noch niemandem geschadet.“ „Wir sind in unserer Jugend hart rangenommen worden und gerade deshalb etwas geworden.“

Die Gegenseite meldet sich dazu mit ganz anderen Lebensweisheiten zu Wort: „Körperliche Züchtigung ist lediglich eine Machtausübung des Stärkeren gegen einen Schwächeren.“ „Strafen beweist nur eine Hilflosigkeit in der Erziehung.“ „Strafen ersetzen keine Argumente.“ „Eine autoritäre Erziehung reproduziert ihrerseits autoritäre Zöglinge.“

Was sagen Psychologie und Erziehungswissenschaft zu solchen landläufigen Sprüchen?

Was Kinder an Strenge nicht brauchen

Kinder brauchen keine körperlichen Züchtigungen. Strafen sollten einen Sachbezug zu dem Vergehen haben. Sie sollten in Richtung Wiedergutmachung, Nachdenklichkeit, Einsicht zielen. Körperstrafen dagegen resultieren in aller Regel aus einer pädagogischen Alternativ- und Hilflosigkeit des Erziehers. Sogar wenn Kinder selbst gewalttätig gegen Menschen oder Tiere wurden, ist Gleiches mit Gleichem zu vergelten kein ethisch wertvolles Erziehen. Prügeln wird von dem Geprügelten als Angriff auf die Würde und Unantastbarkeit seiner Person und damit als demütigend erlebt.

Kinder brauchen keine ständige Gängelung ihres Tuns und Lassens, kein ununterbrochenes Erzogenwerden, sondern produktive Erziehungspausen. Sie wollen möglichst selbst bestimmen, was für sie gut ist und ihren Interessen entspricht. Sie müssen ihre eigenen Vorstellungen entwickeln, ihren eigenen Lebensweg suchen dürfen. Sie benötigen dazu großzügige Freiräume zu ihrer Selbstfindung.

Kinder brauchen keine Überbehütung durch ängstliche Eltern und Erzieher, sogenannte „Helikoptereltern“, die unentwegt über ihnen schweben, sie beobachten und bewachen, dass ihnen nichts Abträgliches geschieht. Sie brauchen keine Eingrenzungen ihres natürlichen Abenteuerstrebens. Sie wollen und müssen selbstständig werden im Gefahrenmanagement. Dazu benötigen sie Lerngelegenheiten und Übungsmöglichkeiten nach eigener Wahl. Sie müssen altersgerecht etwas wagen und sich entsprechende Erfolgserlebnisse schaffen dürfen.

Was Kinder an Strenge brauchen

  • Kinder brauchen eine klare Werteausrichtung. Werteerziehung ist die Basis für das Wachsen eines eigenverantwortlichen Handelns. Sie wird im Einzelnen weitestgehend der Familientradition folgen, muss sich aber unbedingt auch an dem allgemein gültigen Wertekodex der Gesellschaft orientieren.
  • Kinder brauchen ein konsequentes erzieherisches Handeln. Sie benötigen eine glaubwürdige, durchsetzungsfähige Autoritätsperson, die Sanktionen nicht nur androht, sondern auch vollstreckt, wenn das Fehlverhalten und der Regelverstoß eintreten. Die Konsequenzen müssen im Vorhinein vermittelt werden. Sie dürfen nicht aus einer unvorhersehbaren Spontanreaktion erfolgen, um akzeptierbar zu sein.
  • Kinder brauchen klare Grenzsetzungen, Regeln, Verhaltensmuster, an denen sie sich orientieren können. Das gilt besonders für gefahrenträchtige Situationen oder ethische Verhaltensweisen. Wegweiser helfen, sich in tolerablen Handlungsspielräumen zu bewegen.
  • Kinder brauchen Begründungen für strenge Erziehungsmaßnahmen. Sie müssen verstehen können, warum man ihnen ein bestimmtes Tun oder Lassen auferlegt. Gebote und Verbote müssen stichhaltig und nachvollziehbar sein.
  • Kinder brauchen das bedingungslose Respektieren ihrer kindlichen Person. Jede Eingrenzung ihrer Willensfreiheit, jede Sanktion und Strafaktion muss die Unantastbarkeit und fraglose Wertigkeit des Kindes achten. Das Kind muss sich auch im Strafen angenommen wissen.

Folgerungen

Kind- und sachgerechtes Erziehen bewegt sich im alltäglichen Umgang nicht in Extremformen. Strengere Führung muss flexibel wechseln mit Loslassen. Einerseits sind Gefahrenabwehr und Erziehung zu moralischem Handeln elterliche Pflichtaufgaben. Andererseits können sich Selbstständigkeit und Eigenverantwortung nur entwickeln, wenn Gelegenheiten dazu bleiben, diese auszuprobieren und zu üben.

Strenge ist nicht mit Lieblosigkeit gleichzusetzen. Eine alte Volksweisheit lehrt sogar das Gegenteil: Wer sein Kind liebt, der verwöhnt es nicht, sondern fordert es.

Strafmaßnahmen sollten nicht als unmittelbare Blitzreaktion erfolgen. Auch der Erzieher braucht eine Denkpause bei Fehlverhalten des Kindes, um nicht emotional überzureagieren. Es gilt, das angemessene Maß zu finden, um zukünftiges Verhalten zu beeinflussen.

Zu strenge Strafen wirken sich kontraproduktiv aus, weil sie als ungerecht und reine Machtausübung empfunden werden. Strafandrohungen dürfen aber auch nicht ins Leere laufen, indem sie folgenlos bleiben.

Glaubwürdige Strenge verlangt ein konsequentes, nachvollziehbar auf das Wohl des Kindes ausgerichtetes Erzieherhandeln. Körperstrafen und andere entwürdigende Maßnahmen haben nach der Gesetzgebung (§ 1631, Abs. 2, S. 2 BGB) zu Recht keinen Platz mehr im Sanktionskatalog, weil sie in aller Regel nicht sachangemessen und einsichtsfördernd sind, sondern sich nur als demütigend auswirken. Kinder haben nach § 1631, Abs. 2, S. 1 BGB ein Recht auf eine gewaltfreie Erziehung.

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